Die « Hefte für ostasiatische Literatur » machen in Europa bisher unbekannte literarische Texte aus dem fernen Osten in deutschen Übersetzungen zugänglich. Neben wichtigen lyrischen, erzählenden oder auch dramatischen Texten aus China, Japan und Korea bieten sie Informationen über und Werkstattgespräche mit literarischen AutorInnen aus Ostasien, eine sorgfältige Zusammenstellung von Neuigkeiten aus dem kulturellen und literarischen Leben Chinas, Japans und Koreas sowie eine ausführliche Bibliographie neuer deutschsprachiger Publikationen zur Literatur dieser Länder.
Aus dem Vorwort:
Als Ôe Kenzaburô der Nobelpreis für Literatur 1994 zugesprochen wurde, reagierten die Buchhandlungen in Japan (die sich schon längst auf leichter verdauliche Kost umgestellt haben) mit der eiligen Einrichtung von Ôe-Tischen und Ôe-Ecken etc. In einer Fernsehsendung wurden Jugendliche, die in den ausliegenden Büchern geblättert hatten, nach ihrer Meinung befragt. Mehrfach wurden verwunderte Reaktionen wie « Das sind ja lauter Buchstaben! » gehört. Die Befragten hatten offenbar lange nicht mehr ein Buch ohne Bilder, d.h. ein Buch, das kein Comic ist, in der Hand gehalten. Auf jeden Fall hat das « Buch aus lauter Buchstaben » in dieser Zeit, da sogar der Comic ein nostalgisches Medium zu werden droht und man uns zur lustigen Fahrt auf der Datenautobahn einlädt (natürlich ohne Geschwindigkeitsbegrenzung), einen schweren Stand und ist ein Autor wie Ôe ein doppelter und dreifacher Anachronismus: ein Schriftsteller, der wider alle Moden daran festhält, daß Literatur schreiben eine moralische Tätigkeit ist und den Kern unserer individuellen und gesellschaftlichen Existenz berührt, der an die Kraft des Wortes glaubt und dies zudem noch in Japan tut, wo die Herrschaft der Bilderflut schon viel weiter gediehen ist als bei uns – und uns so zwingt, auch derartige Verallgemeinerungen wieder zurückzunehmen.
Auch wenn die Literaturnobelpreise bei uns immer wieder zu verlegerischen Strohfeuern Anlaß geben und von « Kennern » gern mit zynischen Bemerkungen abgetan werden, bleibt doch die Hoffnung, daß eine solche Verleihung den Blick der Literaturleser auf die Vielfalt der Literaturen – auch auf die Vielfalt innerhalb der Literaturen – lenkt. Immer wieder haben die Literaturnobelpreise der letzten Jahre den heilsamen Effekt gehabt, auch den ausgesprochen eifrigen Literaturlesern vor Augen zu führen, daß die Welt größer ist als unsre Schulweisheit uns träumen läßt, daß hinter jedem « weltliterarischen » Horizont weitere Horizonte auf uns warten – und daß altmodische (und « zeitraubende ») Tätigkeiten wie Lesen, Verstehen und Übersetzen weiterhin gefragt sind.
Wir haben den Nobelpreis zum Anlaß genommen, einen längeren Essay von Ôe Kenzaburô in dieses « Heft » aufzunehmen, der den Erzähler als unzeitgemäßen Intellektuellen zeigt, so wie es bereits seine Nobelpreisrede und in neuester Zeit sein Briefwechsel mit Günter Grass getan haben. Mit den Texten von Can Xue, Wang Shuo und Su Tong bringen wir Werke von drei jüngeren chinesischen Autoren (alle drei noch in ihren Dreißigern), die zusammen die erstaunliche Variationsbreite in Thematik und Schreibweise bezeugen, die heute in der VR China zu finden ist. Die Auswahl klassischer chinesischer Witze und die Haiku von Issa schließlich erinnern uns daran, daß die vormodernen Literaturen Ostasiens einen zu kleinen Raum in unserer Zeitschrift einnehmen (dies auch als Bitte an mögliche Beiträger gedacht!).
Wir freuen uns, endlich wieder einen koreanischen Beitrag bringen zu können: Sin Ch’ae-hos anarchistische Parabel aus dem Jahre 1928 zeigt mit ihrem wilden Ideensynkretismus, ihrer Wut und ihrem Witz, daß im Ostasien des 20. Jahrhunderts neben modernen – bürgerlich oder sozialistisch gezähmten – Erzähltraditionen viel ältere Ausdrucksformen (in diesem Fall an koreanische Volkstraditionen anknüpfend) weiterleben und sogar die Kraft haben, neueste Bedeutungen zu transportieren.