Autoren, die, aus welchen Gründen auch immer, zeitweise oder dauerhaft in einem anderen Land als dem ihrer Geburt leben und arbeiten, sind zumal in der Moderne keineswegs eine Seltenheit: In der jüngeren Vergangenheit, um nur einige Beispiele zu nennen, Samuel Beckett und Peter Handke in Frankreich, Vladimir Nabokov in den USA oder der US-Amerikaner Ian Levy, der seit Jahren unter dem Namen Ribi Hideo in Japan lebt und in seinen Essays, Erzählungen und Romanen die Sprache seiner Wahlheimat verwendet. Unter diesen Schriftstellern finden sich zunehmend auch Autoren aus China oder Japan – Literaturnobelpreisträger Gao Xingjian, die in Deutschland lebende, auf japanisch und deutsch publizierende Tawada Yoko (»Überseezungen«), Ikezawa Natsuki, der seit einiger Zeit in der Nähe von Paris lebt, oder der von Christiane Hammer in diesem HEFT porträtierte Ha Jin, der – ebenso wie Tawada – erst in der angenommenen oder gesuchten Fremde zum Schriftsteller wurde. Noch häufiger – wenngleich vielleicht nicht so häufig, wie man anzunehmen geneigt sein könnte – sind Texte, die in einem Land angesiedelt sind, das nicht der Lebensmittelpunkt des Autors ist, ja, das der Autor oftmals nicht einmal aus eigenem Erleben kennt. Eine absolute Ausnahmeerscheinung hingegen dürfte ein Text wie Kita Morios In Nacht und Nebel darstellen, eine umfangreiche Erzählung (man zögert, von einem Roman zu sprechen), deren letzten Teil wir in diesem HEFT bringen und die zumindest im Rahmen der modernen japanischen Literatur singulären Charakter besitzt: Zum einen wegen des für den hiesigen (und möglicherweise auch für den seinerzeitigen japanischen) Leser überraschenden Sujets, ein Thema (die Selektion und Vernichtung der Patienten einer Nervenklinik während des Dritten Reichs, vor dem nur angedeuteten, nichtsdestoweniger für die Erzählung außerordentlich wichtigen Hintergrund der in ihrer Dimension noch weitaus grauenerregenderen Vernichtung der Juden), das genuin – und ausschließlich – mit Deutschland verbunden ist; zum anderen wegen der Erzählhaltung, des Blicks auf die Geschehnisse, die dem Text seinen vermutlich einzigartigen Charakter verleihen – ein gewissermaßen durch und durch deutscher Blick, der an kaum einer Stelle erkennen läßt, daß die Erzählung von einem japanischen Autor stammt.
Den Anfang des Übersetzungsteils bildet ein Prosagedicht, in dem der Lyriker Hoshino Toru ein Thema aufgreift, das bereits früh in der japanischen Literaturgeschichte anzutreffen ist. Dabei geht Hoshino allerdings von einem Jahrhunderte später entstandenen Haiku Bashos aus und entwickelt dieses Thema, das dem ein oder anderen Leser aus Fukazawa Shichiros Roman Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder bekannt sein könnte, weiter – zu der Suche nach einem Ort jenseits des eigenen Ichs. Mit Der Alte von der Ostmauer bringen wir zum zweiten Mal einen Text von Chen Hong, einem Autor, der eher als Historiograph denn als Literat bekannt ist. Diese Novelle, deren Konstruktion und Sprache dem beruflichen Hintergrund ihres Verfassers geschuldet sein dürfte, erlaubt einen interessanten Einblick in die materielle Kultur der Tang-Zeit und vermittelt gleichzeitig einen Eindruck von der Vanitas menschlichen Tuns. Ebenfalls aus der Tang-Zeit stammt die Erzählung Der weiße Affe, aus heutiger Sicht märchenhaft im Ton, aber mit einem Schluß aufwartend, der hiesigen Märchen eher fremd ist. Alles andere als fremd hingegen erscheint der postmoderne Text Pfauenkäfig von Feng Li, die wir damit ein weiteres Mal vorstellen. Mit Ba Jins sozialkritischer Erzählung Ein Hundeleben, in der die Existenz eines Shanghaier Underdogs zu Beginn der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts beschrieben wird, möchten wir an den im vergangenen Jahr verstorbenen Autor erinnern. Obwohl das Elend der Welt in den seither vergangenen Jahren kaum geringer geworden ist, mutet dieser Text an, als stamme er aus einer sehr fernen Zeit. Der Abdruck der beiden letzten Erzählungen des Übersetzungsteils erfolgt nicht zuletzt aus dokumentarischen Gründen. Wakamatsu Shizuko, die Autorin von Großmutters Zimmer, in Japan noch heute in Erinnerung wegen ihrer Übersetzung von F. Burnetts Little Lord Fauntleroy (dt.: Der kleine Lord), zählt zu jenen Stimmen, die die Anfänge der modernen japanischen Literatur prägten, während der Text Schneckenhaus einen der ersten Versuche darstellt, die Kulturrevolution und ihre Folgen mit literarischen Mitteln zu verarbeiten. Zugleich möchten wir mit dem Abdruck der Übersetzung an Eva Scharlau erinnern, eine Sinologin der jüngeren Generation, die bei der Tsunami-Katastrophe Weihnachten 2004 ums Leben kam.
In der WERKSTATT bringen wir Ergänzungen zu den Veröffentlichungen von Günter Debon, in den VARIA neben einem Porträt Ha Jins einen Bericht über das Berliner Festival ›China zwischen Vergangenheit und Zukunft‹.
Mit Nachrichten zur Literatur aus Japan und Korea sowie Bibliographien zu neuen deutschsprachlichen Veröffentlichungen zur chinesischen und koreanischen Literatur beschließen wir dieses HEFT – das vierzigste von allen.